Wie man Karl Valentin lesen kann.
Aus Anlass unserer Premiere von „Die Zukunft war früher auch besser“ am 10. Oktober um 19.30 im Kleinen Theater – Kammerspiele Landshut haben Christoph Leibold vom Bayrischen Rundfunk und ich ein Gespräch über Karl Valentin geführt
C.L.: Valentin ohne Valentin, sagen viele, das geht gar nicht! Ihn zu imitieren, kann eigentlich nur schiefgehen. Wieso setzt man sich der hohen Gefahr des Scheiterns aus?
R.S.: Nachahmung scheitert immer. Trotzdem wollte ich diesen Abend unbedingt machen – weil Karl Valentin eine Denkart hat, die der bayerischen Sprache immanent ist und die sich wie ein roter Faden durch die bayerische Literatur zieht. Da gibt es einen ganz merkwürdigen, anderen Umgang mit Logik. Ich habe als Kind ein, zwei Jahre bei Bad Tölz auf dem Land gelebt. Dadurch ist das Bairische zum Schlüssel für meine Kindheit geworden. Und noch heute ist es so, dass ich als Schauspieler, wenn ich Bairisch spreche, in Bereiche vordringe, die mir auf Hochdeutsch verschlossen bleiben. Das hat mir dieser Denkart zu tun, die bei Karl Valentin besonders ausgeprägt ist. In München gibt es ja das berühmte Zerwirk-Gewölbe, wo man das Fleisch zerlegt und die Knochen zerhauen hat. Der Valentin hat im Kopf ein Zerwirk-Gewölbe für Gedanken. Er zerdenkt Zusammenhänge ins vollkommen Absurde.
C.L.: Dazu zerlegt er die Sprache und verbeißt sich mitunter sogar in einzelne Buchstaben. Man denke an die berühmten „Semmelnknödeln“. Alfred Kerr nannte Valentin daher einen „Wortezerklauberer“. In diesem Zerpflücken von Sprache steckt mehr als nur die Lust am Nonsense?
R.S.: Oh ja, das geht sehr viel tiefer. Da bohrt einer auf den Grund der menschlichen Existenz und entdeckt dabei das ewige Kind. Wir können uns noch so sehr dekorieren mit Ehrentiteln und einkleiden in Macht und Logik: tief unten sitzt ein Kind, das unmittelbar erlebt und für das die Logik nicht gilt. Weil alles ein Eigenleben hat und weil man allem auch die Beine ausreißen kann wie einer Fliege. Zu diesem Punkt muss man hinunter, wenn man Karl Valentin spielen will.
C.L.: Valentin ist öffentlich aufgetreten, er hat Filme gedreht und vieles mehr. Kernstück des Werks aber sind die unzähligen Dialoge, die er für den Rundfunk und auf Schallplatte aufgenommen hat: „Die Fremden“, „Der Buchbinder Wanninger“, „Der Ententraum“ etc. Manche reden von Sketchen. Mir kommt das als Genre-Bezeichnung viel zu kurzgegriffen vor.
R.S.: Ja, ein entsetzlicher Begriff! Mit Sketchen hat das nicht das Geringste zu tun. Das ist auch der Liesl Karlstadt zu verdanken. Das war eine unglaubliche künstlerische Beziehung. Niemand konnte da hinkommen, wo Valentin war, nur die Liesl. Sie haben die Dialoge ja auch gemeinsam aus der Improvisation entwickelt.
C.L.: Die beiden haben auch Samuel Beckett beeindruckt. Als junger Schriftsteller hat er bei einem München-Besuch 1937 Valentin und Karlstadt im Stück „Der reparierte Scheinwerfer“ gesehen. Da spielten die zwei einen Theater-Beleuchter und dessen Lehrbuben, die einen Scheinwerfer richten müssen, weil der „keine Scheine mehr wirft.“ Natürlich scheitern sie wiederholt, so tragisch wie komisch. Ich glaube ja, diese beiden Valentin-Figuren waren eine Inspirationsquelle für Becketts Wladimir und Estragon in „Warten auf Godot“. Ist die These haltbar?
R.S.: Unbedingt! Auch Bertolt Brecht war begeistert von Valentin. Bei den Endproben zu seinem Stück „Das Leben Eduards des Zweiten“ an den Münchner Kammerspielen hat der Brecht den Valentin gefragt: „Wie schauen eigentlich Soldaten aus?“ Valentins Antwort: „Angst hams, blass sans!“ Daraufhin hat Brecht die Schauspieler kreideweiß schminken lassen.
C.L.: Wie sieht es denn mit späteren Nachfahren aus? Wäre ein Künstler wie beispielsweise Herbert Achternbusch ohne Valentin denkbar gewesen?
R.S.: Eher nicht. Ohne Valentin hätte Achterbusch gar nicht so weit in diese besondere intuitive Qualität der bayerischen Sprache gehen können. Und falls doch, hätte es ohne Valentin noch kein Publikum gegeben, das Achternbuschs Art zu schreiben akzeptiert hätte. Für mich gibt es auch eine Verwandtschaft zwischen Karl Valentin und Ödön von Horváth. Bei Horváth findet man auch oft valentineskes Denken, und seine Sprache, dieser Kunstdialekt, trägt Züge so einer direkten, naiven Menschensprache wie bei Valentin.
C.L.: Das heißt, Karl Valentin gehört in diesen Kosmos des kritischen Volkstheaters, wie neben Horváth auch Marieluise Fleißer oder Martin Sperr?
R.S.: Ja! Und zugleich übersteigt er diesen Kosmos. Alles, was in dieser „Volksliteratur“ möglich ist, hat durch die Möglichkeiten, die Valentin eröffnet hat, nochmal eine ganz andere Höhe erfahren. Und was mich persönlich betrifft: Mir hat der Valentin öfters die Haut gerettet. Er ist mein Schutzheiliger. Durch ihn habe ich als Schauspieler erleben können, was möglich ist, wenn ich aus der Kindheitssprache heraus spielen darf. Im Grunde genommen war der Valentin für mich das, was der Vergil für den Dante war. Der hat mich durch die Hölle geführt.
C.L.: Und hoffentlich auch wieder heraus?
R.S.: Aber natürlich! Wie es im Zen-Buddhismus heißt: „Auf dem Grunde der Hölle fließt eine Quelle reinsten Wassers.“ Valentin kannte diese Quelle.